Schallkur

Es mutete seltsam an, aber das Wetter war an diesem Tag ganz anders als noch tags zuvor. So etwas hatte ich, soweit ich mich erinnern konnte, noch nie erlebt. Vielleicht erklärt dies, was nun folgte.

Denn ansonsten begann der Tag unauffällig, beinahe ganz normal. Ich ging zu Fuß die fünfhundert Meter zur nächsten U-Bahn-Station. Das bedeutete, auf die Fahrt mit dem Bus zu verzichten, doch erschien mir das unter den gegebenen Umständen als die sicherere Variante. Erst letzte Woche war ich im Bus in eine Fahrkartenkontrolle geraten, und da ich mich geweigert hatte, meine Monatskarte vorzuzeigen, hatte ich ein Bußgeld erhalten. Ich war durchaus im Besitz einer Monatskarte gewesen, doch wollte es mir aus unerfindlichen Gründen nicht einleuchten, diese im Bus vorzuzeigen. »In der U-Bahn, kein Problem«, hatte ich dem Kontrolleur erwidert, »aber doch nicht im Bus. Ich bitte Sie.« Man muss auch Grenzen setzen. Man darf sich nicht immer herumschubsen lassen, sonst machen sie mit einem, was sie wollen.

Das sollte mir jedenfalls an diesem Morgen nicht noch einmal passieren, und es passierte mir auch nicht noch einmal, denn ich ging ja zu Fuß. Sollten Sie doch jemand anderen kontrollieren. Ich zog den Ruin eines Anderen einem mir auferlegten Bußgeld eindeutig vor. (Da es früh am Morgen war, gestattete ich mir diesen Gedanken.)

Ich erreichte die U-Bahn-Station. Noch hatte ich mich kaum von meinem Wohnort entfernt, doch es wurde bereits immer vielversprechender. Ein neuer Nachbar aus meinem Haus erkannte mich nicht, als ich unter Tage im Halbschlaf auf der metallgrauen Sitzbank für einen kurzen Moment einschlummerte. Er drückte mir unauffällig einen Euro und eine halbe Butterbreze in die somnambul ausgestreckte Hand, und ich erwachte. Ich schwor mir, ihn in meinem Notizbuch von nun an als einen guten Nachbar zu führen. Ich würde zukünftig darüber hinwegsehen, wenn er einmal einen Karton in unserem Papiercontainer entsorgen sollte, ohne ihn vorher zerkleinert zu haben. Ich würde davon absehen, ihn beim Vermieter anzuschwärzen, einem vehementen Ordochristsozialen. Dieser lauerte doch nur auf einen weiteren Neugeschwärzten, so wie es auch ihn eines Tages einmal erwischt hatte, wohl vor etwa vierzig Jahren, vielleicht auch einundvierzig. Man wünscht den nachfolgenden Generationen schließlich immer die gleiche Pein, die man früher selbst erlitten hat, so war das nun einmal. Dennoch, um noch einmal auf die Kartonnagen zurückzukommen, ich würde den Papiercontainer in den nächsten Wochen zur Sicherheit lieber weiter im Auge behalten. Sicher ist sicher, dachte ich. Ich war mein ganzes Leben lang immer auf Sicherheit bedacht gewesen, und damit nie schlecht gefahren. Wenn ich nur daran denke wie… doch lassen wir das, das wäre ein ganz anderes, ein eigenes Thema.

Kaum hatte ich den U-Bahn-Waggon betreten, stand ich auch schon wieder, eingezwängt im Berufsverkehr. Ich sah keine andere Möglichkeit, als mich mithilfe meiner Kopfhörer einer Schallkur hinzugeben. Die geschenkte halbe Butterbreze aß ich dennoch, hastig und jeden Bissen genießend.

Im Büro angekommen, traf ich einen Kollegen, was an sich noch nicht ungewöhnlich war, denn es war gegen acht und die meisten kamen zwischen sieben und neun.

»Wollen wir erstmal einen Kaffee trinken?« fragte ich, in der Hoffnung auf eine abschlägige Antwort.

»Wir müssen nicht, aber wir können«, erwiderte er. »Spendierst du ihn heute?«

»Eigentlich ja, gern. Nur, warum schon wieder ich? Bist nicht du dran?«

»Doch schon. Trotzdem könntest doch du ihn heute noch einmal spendieren, oder? Bist halt ein alter Schwab‹, ein Geizkragen. Doch vergesse nie die große Weisheit jener, die sagten, dass man Geld nicht essen kann.«

»Essen vielleicht nicht. Aber doch zumindest verprassen?«

»Jetzt stell‹ dich nicht so an. Zahl‹ einfach den Kaffee und ich lasse dich in Ruhe.«

So ein grober Mensch, dachte ich. Laut sagte ich etwas anderes: »Müssen wir uns den Kaffee unbedingt teilen? Und außerdem, seit wann kostet denn der Kaffee bei uns in der Firma etwas? Ist er nicht mehr umsonst?«

»Doch, er ist weiterhin umsonst. Warum fragst du?«

Für einen kurzen Moment schwiegen wir beide. Ich war es, der wieder das Wort ergriff: »Stell dir vor, ich wäre heute beinahe in der U-Bahn kontrolliert worden. Und letzte Woche wurde ich im Bus kontrolliert. Ich bin sicher, nächste Woche kommt eine Kontrolle in der Tram. Was schließen wir daraus? Das kann doch kein Zufall sein, diese Dreiheits-Konstellation. Drei Wochen, drei verschiedene Verkehrsmittel. Sie kontrollieren jetzt mittlerweile alles. Alles, sage ich dir.«

»Was du nicht sagst.«

»Es geht noch weiter. Man hat nur einen flüchtigen Blick auf meine Monatskarte geworfen. So als ob sie schon wüssten, wann gekauft und wie viele Zonen und bis wann gültig. Ich sage dir, da stimmt etwas nicht.«

»Was du nicht sagst. Wobei – ich glaube, da würde ich mir noch keine Sorgen machen.«

»Und stell dir vor, was die Kontrolleurin dann am Ende gesagt hat: ›Haben Sie eine angenehme und sichere Reise‹. Nicht einfach: ›Machen Sie’s gut‹, oder ›Schönen Tag noch‹. Nein: sie wünscht mir eine angenehme und sichere Reise. Wenn das kein Winkpfahl war.«

»Rätselhaft. Mir erscheint das arg verdreht, wenn ich ehrlich bin. Und hast du diese Sprachstörungen eigentlich schon länger? Schließlich, woher kamst du heute früh mit der U-Bahn? Von zuhause?«

»Ja klar. Ich kam von daheim.«

»Na dann. Vielleicht meldest du es dann doch besser. Ich stimme dir zu – da stimmt definitiv etwas nicht.«

Mein hungriges Herz, immer hungrig nach derart spannenden Durchbrechungen meines doch recht eintönigen Alltags, verwandelte sich nun in ein rebellisches Herz. Mir missfiel aber, dass dieser Kollege sich einmischte. Was bildete er sich eigentlich ein? Bestimmt waren die Ereignisse rund um die Fahrkartenkontrollen nur Zufall gewesen. Ich beschloss, den Vorfall ganz bewusst nicht zu melden.

»Hast du dir übrigens schon etwas für dein Firmenjubiläum überlegt?« fuhr mein Kollege fort. »Gibst du etwas aus?«

»Einen Kaffee vielleicht«, sagte ich schnell, »aber ich weiß es noch nicht genau.« Stimmt, dachte ich, nächste Woche ist ja bereits mein Jubiläum. Sind es 21 Monate? Oder sind es sogar schon 21 Wochen? Wie so oft in letzter Zeit hatte ich den vagen Eindruck, dass sich mein Zeitgefühl verflüchtigte.

»Sehen wir uns später im Teammeeting?« fragte ich, um einen Abschluss dieses unsäglichen Gesprächs herbeizuführen.

»Sicher nicht«, sagte mein Kollege, und ich blickte ihn verdutzt an. »Wir sehen uns auf dem Groove-Planeten«, fuhr er fort, und zwinkerte mir verschwörerisch zu.

Da begann ich, klar zu sehen. Was bisher wie eine geringfügige Bedrohung erschienen war, wuchs sich nun zu einer realen Gefahr für meinen Leib und mein Leben aus.

»Seit wann verkehrst du auf dem Groove-Planeten?« fragte ich ihn.

»Schon lange«, sagte er. »Schon viel länger, als du ahnst.«

»Und was machen wir, wenn wir dort aufeinandertreffen?« fragte ich zweifelnd, aber noch immer in der Hoffnung, dass er mir nur etwas vorgaukelte.

»Wir tun so, als ob wir zufällig ins Gespräch kommen. Wir bestellen ein Bier und einen Schnaps. Oder einen Smoothie, wobei – nein, besser nicht, das wäre zu auffällig. Wie auch immer, wir stoßen an und rufen dabei laut, so dass uns alle hören können: ›Auf das 21. Jahrhundert‹. Halt, nein, wir rufen: ›Auf das 21. Jahr‹.«

Da brach für mich eine Welt zusammen.


© 2022 Michael Walch. Alle Rechte vorbehalten. | Up