Miau sagte ich

Eine pittoreske Miniatur

»Miau«, sagte ich, und dann, wie um mich selbst noch einmal davon zu überzeugen, dass ich doch letzten Endes wirklich eine Katze war, noch einmal, laut und mit deutlicher Stimme: »Miau!«

Ich wartete kurz ab, spitzte meine Ohren, veränderte ihren Winkel um wenige Winkelgrade, aber nichts geschah. Es schien, als sei schon wieder niemand zuhause. Dies war wenig verwunderlich, falls heute eine neue Arbeitswoche begonnen hatte. Aber auf einmal war ich mir nicht mehr ganz sicher, ob heute wirklich Montag war – auch wenn ich dies annahm – oder ob auf den gestrigen Sonntag diesmal ausnahmsweise noch ein weiterer Sonntag folgte. Den Menschen war schließlich alles zuzutrauen. Eine Art Doppelsonntag sozusagen, ein verlängerter Sonntag, oder ein SonntagPlus, sofern hier eine Marketingabteilung ihre Finger im Spiel hatte. Ich bin übrigens ziemlich gebildet und intelligent, was ich in aller Bescheidenheit an dieser Stelle gerne anmerken möchte. Aber im deutschen Kalenderwesen bin ich nicht sehr bewandert.

Mit einem Satz war ich auf dem langen Fensterbrett im Schlafzimmer, vor dem hohen, windschiefen Altbaufenster mit dem rissigen Holzrahmen, von dem an einigen Stellen bereits die weiße Farbe abblätterte. Ich blickte nach draußen, schräg hinunter auf die große Straßenkreuzung. Sofort wunderte ich mich. Es war still, merkwürdig still, ja im Grunde genommen war es, und ich darf dies ohne Übertreibung sagen, totenstill.

Dem Licht nach zu urteilen war es später Vormittag. Dichte, violett-blaue Wolken hingen schwer und wie betrunken am Himmel. Das spärlich verbliebene Laub auf den hohen Bäumen der gegenüberliegenden Straßenseite hatte sich in den letzten Wochen größtenteils gelb verfärbt, aber ein gewisser Teil, vor allem unten und nahe dem mächtigen Stamm, war noch grün. Beides zusammengenommen, das Grün und das Gelb, kontrastierte stimmungsvoll gegen das Violett der Wolkendecke.

Doch nur kurz schweiften mein Blick und meine Gedanken in diese Richtung. Ein erneuter Blick auf die Kreuzung zeigte mir klar und deutlich auf, dass hier etwas nicht stimmte. Man sah keine Menschenseele. Kein Auto fuhr, kein Fahrrad, kein Bus, keine Trambahn. Niemand wartete an der roten Ampel, niemand benutzte den Bürgersteig. Mein geschultes Auge nahm keinerlei Bewegung wahr: keine Vögel in der Luft, kein Kleingetier in jenen Nischen, die die Menschen nie betrachten, keine Eichhörnchen in den Bäumen, keine Insekten am Boden. Und obwohl ein leichter Wind ging, bewegte sich das Laub nicht. Es war gespenstisch.

Plötzlich hielt ich inne. Ein Geräusch drang an mein Ohr. Das musste meine Schwester Peregrin sein, von vielen Perry genannt, von mir aber nicht. Wie absurd, meiner Schwester einen Männernamen zu geben. Ich nannte sie meist einfach nur »meine Schwester«. Schließlich lebten ja nur wir beide in dieser Wohnung, nun ja, außer der Menschenfamilie natürlich, die immerhin die Miete bezahlte. Weiß der Teufel warum – wahrscheinlich, um vor den Freunden als witzig durchzugehen – hatten sie nicht nur meine Schwester auf den Namen Perry, sondern obendrein mich auf den Namen Jerry getauft. In meinem Pass stand Geraldine. Auf diesen Namen hörte ich an guten Tagen. Auf Jerry, Chérie, Tomate, »blinde Tomate« oder »Mausi« hörte ich grundsätzlich nicht, unter keinen Umständen, selbst wenn man versuchte, mich kulinarisch zu bestechen. Ich hatte meinen Stolz.

Doch heute waren diese Humoristen nicht zuhause. Ich sprang also vom Fensterbrett und lief nach nebenan, um nachzusehen. Tatsächlich, das musste meine Schwester gewesen sein. Noch einmal vernahm ich ein Geräusch, ein sanftes Schnarchen, begleitet von einem beinahe unhörbaren Knacken der Binsen des geflochtenen Korbs, in dem sie schlief. »Schwester«, flüsterte ich, doch sie ließ sich nicht stören.

Einmal begonnen, beendete ich meinen Rundgang durch die geräumige Altbauwohnung. Es gab keine besonderen Vorkommnisse. Zu dieser Jahreszeit standen die Chancen gering, auf Insekten oder anderes Getier zu stoßen, die zum Tanze riefen. Spiele von Licht und Schatten, hervorgerufen durch plötzlich hereinbrechende Sonnenstrahlen, gab es heute nicht, verhindert vom trüben Herbstwetter. So lag die Wohnung in tiefem Schlaf gefangen da. Noch einmal lief ich am Saum des großen quadratischen Perserteppichs im Wohnzimmer entlang, bevor ich meinen Lieblingssessel im Schlafzimmer ansteuerte.

Doch was war das? Ein Geräusch, gefolgt von einem Knall, ein grelles Licht, draußen ging eine Veränderung vor. Mit einem Satz war ich wieder auf dem Fensterbrett. Wenngleich ich auch die Quelle des Knalls nirgendwo ausmachen konnte, so sahen meine überraschten Augen doch, wie unvermittelt die Sonne zwischen den Wolken hervorbrach. Sie sandte ihre Strahlen durch einen schmalen Korridor schräg nach unten, zur Straßenkreuzung, die sich auf einmal belebte, und sie beschien die Wände im Wolkenloch mit allen Farben des Spektrums. Ständig veränderte sich das Bild, war bald stimmungsvoll, bald romantisch, bald grotesk. Doch schnell fransten jene allzu düster beschienenen Augenblicke aus und verwandelten sich zurück in ein spektakuläres und wunderschönes Tableau: Transparenz gegen milchiges Gewölk, Licht und Schatten, Götterdämmerung.

Und nicht nur das: Gleichzeitig mit jenem Naturschauspiel kehrte das Leben zurück. In den Nischen regte sich das Kleingetier. Aus den Bäumen flogen jene späten Vögel auf, die ihre Reise nach Afrika noch nicht angetreten hatten. Ameisen und greise Käfer bewegten sich und wurden dadurch wieder sichtbar.

Hoppla, und nun das: Um die Ecke bog eine Musikkapelle orangeroter Mäuse, weiß behandschuht und mit Grenadiermützen aus Bärenfell. Vorneweg marschierte die Stabführerin, gefolgt von den fröhlich gegeneinanderschlagenden Tschinellen, großen und kleinen Trommeln, die zwar akkurat in einer Reihe ausgerichtet waren und einem strengen Gleichschritt folgten, unter rhythmischen Gesichtspunkten aber jeweils machten, was sie wollten. Niemand interessierte sich für den Takt oder für die anderen.

Der Gruppe der Schlagzeuger folgte eine motorisierte Fünfheit ohne Musikinstrumente. Man schwenkte übermannsgroße fliederfarbene Blumensträuße über den Köpfen. Sogleich erschienen mehrere Reihen mit Mäusekindern, die mit ihren Stimmchen tapfer gegen den Lärm der Rhythmusgruppe ansangen. Danach aber gab es keinerlei Ordnung mehr. Blech- und Holzbläser unterschiedlicher Couleur liefen durcheinander, hüpften, sprangen in die Luft und vollführten Pirouetten, warfen ihre Flöten und Klarinetten und Tenorhörner in die Luft, manch einer spielte Dur, manch einer spielte Moll, die einen bliesen in C, die anderen in cis, aber allen gemein war eine große, einhellige und farbenfrohe Freude am Leben und am Durcheinander.

Der Lärm war ohrenbetäubend, und ich war selbstverständlich gebannt und aus dem Häuschen. Beziehungsweise – und das war der einzige Wehrmutstropfen – ich wäre gerne aus dem Häuschen herausgetreten, aus diesem ehrwürdigen Altbau mit seinen fast deckenhohen Fenstern, aber ich konnte nicht, denn die Wohnungstür und die Fenster waren fest verschlossen. Ich stand mit meinen Pfoten an der Glasscheibe und reckte den Hals, um vermeintlich noch besser sehen zu können, was aber natürlich in Wirklichkeit gar keinen Unterschied machte und nur meiner Erregtheit als Ventil diente. Wie gerne hätte ich mich unter die Feiernden unten gemischt, aber nicht um, wie Sie mir womöglich unterstellen wollen, ein Blutbad anzurichten, sondern um ganz einzutauchen in das, was sich dort abspielte.

Die Szenerie wurde allerdings immer unübersichtlicher. Der Musikkapelle entgegen schritt eine Abteilung des Trachtenvereins, die die ganze Breite der Straße einnahm. Beide Gruppen kamen nicht aneinander vorbei, sowohl als Masse wie auch als Individuen, wenn sie jeweils auf jene Seite hin auswichen, die ihr Gegenüber zum Ausweichen ebenfalls gewählt hatte.

Erschwert wurde die Auflösung des Verkehrsinfarkts durch einen wie aus dem Nichts aufgetauchten Wochenmarkt, auf dem unbekannte Wesen Nusswaren und heimische Früchte feilboten. Aus einer dritten Himmelsrichtung näherte sich eine Hundertschaft rollschuhfahrender Igel, während von Norden her ein politischer Demonstrationszug nahte – vermummte Südfrüchte, die ihren Forderungen nach Menschenrechten lautstark Ausdruck verliehen. Auch dies geschah, ich muss das nicht erwähnen, mit Trommeln, Zirbeln und Sprechchören.

Und dann, genauso geräuschvoll, wie alles begonnen hatte, fand das Schauspiel sein Ende. Der Korridor zwischen den Wolken schloss sich wieder, das Licht verschwand und mit ihm der Tumult auf der Kreuzung unten und in den angrenzenden Straßen. Ein von den Menschen dominierter, werktäglicher Verkehr setzte wieder ein.

Das einzig ungewöhnliche an dieser Stelle war, wie eine Art Nachbeben, das Auftauchen eines Stadtbusses der Linie 135, der hier eigentlich gar nichts zu suchen hatte. Meine Straße lag nicht auf seiner Strecke, die sonst durch die Bezirke des Phantastischen führte. Bei diesem Bus handelt es sich, wie bereits schon mehrfach an anderer Stelle erwähnt, um einen sogenannten Nekobasu, einen Katzenbus. Hier wie auch an den anderen Stellen ist seine Erwähnung als Plagiat zu werten*, aber was soll ich tun? Die Tatsache, dass dieser 135er-Katzenbus außerplanmäßig in meiner Straße hielt, bildet den Abschluss dieses Vormittags, den ich so intensiv erlebte und der sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Und noch etwas: Der Schwanz des Nekobasu war nicht nur hochaufgerichtet. Er vibrierte auch.

Wie auch immer – noch oft denke ich an diesen Vormittag zurück, wenn ich müßig und zufrieden in meinem Sessel liege und vor mich hinträume. Dann frage ich nicht nach dem Warum. Dann versuche ich nicht, Ursachen oder Erklärungen zu finden, sondern gebe mich stattdessen jener Erinnerung hin und dem Schwelgen darin.

 

* Anm. des Autors: der Katzenbus ist eine Figur im japanischen Zeichentrickfilm Totoro.


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