»Wissen Sie eigentlich schon das Neueste?« fragte mein Nachbar und hielt mich mitten auf der Straße an. Ich zögerte kurz, machte kehrt, überquerte mit ihm zusammen die Fahrbahn und sah ihn fragend an.
»Nein«, sagte ich. Ich erwartete seine Antwort. Es verstrichen einige Augenblicke, bis ich fragte: »Und Sie?«
»Ich weiß es auch nicht«, sagte er.
»So«, sagte ich. Nach einigem Zögern fügte ich hinzu: »Einerseits ist das natürlich schade. Aber andererseits handelt es sich bei dem Neuesten ja um etwas durchaus Relatives, je nach Standpunkt des Betrachters, örtlich und vor allem zeitlich, nicht wahr? Was heute noch das Neueste war, das ist es morgen bereits schon nicht mehr.«
Er ignorierte meine Einlassungen, auf die ich beinahe ein wenig stolz war, da sie mir spontan in den Sinn gekommen waren und mir dafür überraschend geistreich, ja beinahe philosophisch vorkamen. Gleichzeitig kam ich nicht umhin, jene gewisse Leichtigkeit und Lockerheit zu bewundern, die ich in diese beiden Sätze unauffällig eingewoben hatte.
Völlig unempfänglich für derartige Nuancen fragte mein Nachbar unbeirrt weiter: »Und was gibt es Neues bei den Oblonskis?«
»Nichts, soweit ich weiß«, erwiderte ich. »Wissen Sie etwas?«
»Leider nein.« Er schwieg eine Weile. Falten schickten sich an, seine Stirn zu furchen. Nachdenklich und mit ein wenig Resignation fügte er hinzu: »Ich habe schon lange nichts mehr von den Oblonskis gehört.«
»Ich auch nicht«, beeilte ich mich zu erwidern, bedauernd. Ich kannte die Oblonskis gar nicht.
»Was Neues aus dem Rathaus?« fragte er, um sogleich quasi ins Blaue hinein noch hinzuzufügen: »Oder vom Fußball? Oder aus der Astrophysik?«
»Nicht, dass ich wüsste«, sagte ich. »Wissen Sie etwas?«
»Nein, nichts Neues«, sagte er. »Beziehungsweise nicht, dass ich wüsste, genau wie Sie. Da sehen Sie, wie ähnlich wir uns sind. Ich hatte schon länger diesen Eindruck.«
Langsam nickend stimmte ich ihm zu.
»Übrigens«, setzte er wieder an, »Sie dürfen nicht denken, dass ich von vorgestern bin. Ich bin vielleicht von gestern, aber von vorgestern bin ich nicht.«
»Das hätte ich Ihnen auch niemals unterstellt«, erwiderte ich höflich. »Wo denken Sie denn hin.«
»Wohin, sagten Sie?«
»Wie bitte?« fragte ich, da ich zunehmend weniger verstand, worauf mein Nachbar eigentlich hinauswollte. Ich bekam Panik, was mir im Nachhinein übertrieben vorkommt. Jedenfalls beschloss ich, im Falle einer weiteren Eskalation eine vorübergehende Taubheit vorzutäuschen.
»Ich bin auf dem Weg zum Urologen«, sagte er. »Begleiten Sie mich doch ein Stück, sofern Sie nichts Besseres vorhaben. Es ist gleich nach der übernächsten Querstraße.«
»Einverstanden«, sagte ich, und so schritten wir schweigend nebeneinander her und die Straße hinunter. Das war insofern nicht ideal, als mir meine vorgetäuschte Taubheit an dieser Stelle nicht im Geringsten weiterhalf.
»Möchten Sie vielleicht mit hineinkommen?« fragte er unvermittelt.
»Wie meinen Sie das?« gab ich die Frage erstaunt zurück.
»Na, ob wir uns hier auf der Straße unterhalten oder oben im Wartezimmer, das macht am Ende doch auch keinen Unterschied. Kommen Sie doch mit hoch ins Wartezimmer.«
»Ich weiß nicht ob…«
»Keine falsche Schüchternheit, junger Mann. Keine Sorge, ich bin mit den Sprechstundenhilfen gut bekannt. Sie freuen sich, wenn ich mal jemanden mitbringe. Und ich selbst habe auch etwas davon, denn im Wartezimmer liegt nur urologische Fachliteratur aus, und ich muss gestehen, dass ich das etwas unangenehm finde. Es ist also eine Win-Win-Situation, wie man heute so sagt.«
»Mit Verlaub, ich weiß nicht…« sagte ich.
»Übrigens hat meine Großcousine nächste Woche Geburtstag«, unterbrach mich mein Nachbar. »Sie wissen schon, die Irmi.«
»Das ist traurig«, sagte ich. »Und glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Ich selbst hatte letztes Jahr auch einmal Geburtstag. Habe ich Ihnen davon erzählt?«
»Aber da haben wir doch eine Neuigkeit!« rief er aus. »Wenn das keine Neuigkeit ist. Haben Sie schon die Presse unterrichtet?«
»Natürlich nicht«, sagte ich. »Mir scheint, Sie verwechseln da etwas. Es ist an der Presse, so etwas herauszufinden, und nicht an mir, sie davon ins Bild zu setzen. Außerdem lege ich Wert auf Privatsphäre.«
»Da haben Sie auch wieder recht«, sagte er. Nun wusste er nun wirklich nicht mehr, was er noch sagen sollte.
Genau in diesem Augenblick hielt vor uns ein Bus der Linie 135, ein sogenannter Katzenbus. Was Länge, Höhe und Rumpf anbetraf, so sah dieser Linienbus genauso aus wie alle anderen Stadtbusse, aber an seinem Ende prangte ein meterlanger, buschiger, in diesem Moment hoch aufgerichteter Katzenschwanz, der freudig zitterte und dessen Spitze nach innen hin eingebogen war, ein Zeichen höchster Erregung und guter Laune. Anstelle der Front- und Seitenscheibe auf Höhe des Fahrersitzes befand sich ein recht hübsches Katzengesicht mit einem möglicherweise höhnisch grinsenden, in jedem Falle aber frechen Gesichtsausdruck. Das konnte allerdings täuschen, denn es ist schwierig, die Mimik von Katzen zu lesen. Jetzt verstand ich, woher der japanische Zeichentrick Totoro seine Inspiration genommen hatte, als er den sogenannten Nekobasu erfand, den Katzenbus. Unser Bus hier war vollbesetzt mit lachenden, kreischenden, jubilierenden Fahrgästen. Erst Jahre später stellte sich heraus, dass der Katzenbus mit Lachgas angetrieben wurde und dass die Leitungen nach innen hin ein wenig leckten. Aber dies nur am Rande.
»Es war schön, Sie kennengelernt zu haben«, sagte ich zu meinem Nachbarn.
»Die Freude war ganz meinerseits«, erwiderte dieser. »Ich hoffe wir begegnen uns bald mal wieder, um unser Gespräch fortzusetzen.«
»Das hoffe ich auch«, sagte ich. »Ich nehme diesen Bus. Auf bald!«